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Alles ganz normal, irgendwo im Nirgendwo

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#235
2705
2008
Di
19:01
Tag
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Ich fahre mit dem Bus einige Stunden an die Küste. Eine kleine Stadt namens Nirgendwo. Mit dem Motorbike an leere Sandstrände in der Nachsaison. Erste Anzeichen von Kamibiza machen sich in Form großer Betonburgen breit. Überall stehen alte majestätische schmiedeeiserne Zäune aus der Kolonialzeit. Sie umgeben leere Felder. Andere Mauern stehen in der Luft auf 2m hohen Flutstelzen. Escher hätte das sicher gefallen.

Überall hängen Plakate gegen Kinderprostitution. Im Bus sind einige Helfer mit Tshirts eines Heims für Straßenkinder in Nirgendwo. Ich bin beunruhigt. Beruhigend ist, dass Kinderprostitution ins öffentliche Bewusstsein gebracht wird. Beunruhigend ist, dass es anscheinend nötig ist.

Die Stadt Nirgendwo sieht so normal aus. Ich bin auf dem Markt. Händler handeln und Käufer kaufen wie überall. Ich bin am Strand von Nirgendwo. So sauber und weiß, und dahinter strahleblitze weiße Betonburgen. Eine paradiesische Strandbar, Mango-Vanille Smoothie. Dann eigenartig weit draußen angelegte Baustellen für vollkommen isolierte Luxushotels. In Hängematten dösende Kambodschaner. Straßen aus Matsch.

Alles ganz normal, so vollkommen normal. Sonne, Sonnenschutz, Meer, Müllverbrennung, Palmen, Sumpf, Touristen, Kambodschaner, Zäune, Straßen, Verkehr, Spritpreise, Zimmerpreise, Essenpreise, Getränke, Essen, Zimmer, Ventilator, Bad, Bett. Alles so normal.

Zwischen all der Normalität schleicht der Wahnsinn. Nackt, schwer und dunkel. Am Tag versteckt er sich. In der Nacht kriecht er hervor. Ich geh abends Pizza essen. Ay, das sind aber viele Bars. Und viele Frauen. Ich esse. Schaue aus dem Fenster. Frauen? Ich esse weiter. Schaue weiter. Schaue nochmal. Putze meine Brille.

Mädchen.

Das sind keine Frauen. Das sind Mädchen. Sie sehen fast aus wie Frauen. Aber es sind Kinder. Sie rufen den Männern hinterher. Warten. Schauen in die Nacht. Was ist das hier? War der Pizzakoch bei der Fremdenlegion? Verzeihung, Naivität ist manchmal Schutz. Ich will das nicht glauben. Ich will nicht.

Trotzdem fühl ich mich, als müsste ich genauer hinsehen um Vorurteile zu vermeiden. Wo werden eigentlich diese Plakate gedruckt, und wer entwirft sie, wer klebt sie überall in Nirgendwo, wer bezahlt sie? Ich schaue genauer hin. Im Schein einer Laterne dreht sich der Kopf eines Mädchens. Sie sieht aus wie eines der Opfer der Roten Khmer im Museum. Ich zahle und flüchte in meine Hotelbar.

Sitze allein auf der Terrasse, schreibe. Werde auf ein Würfelspiel eingeladen. Würfelspiele, au ja, fein, na klar, Prost, sofort, wie geht das ah ja okay krieg ich hin Prost komm gib mir deinen besten Wurf. Die Würfel rollen. Bier. Rauchen. „Nein nein, die Bedienung ist 20, die schaut nur so jung aus“, sagt mein Kumpane.

„Ach ja, und das Gesetz wurde gerade geändert In Kambodscha.“ Prost. Wenn man 16-jährige Mädchen erst nach dem Verkehr bezahlt, so wäre das nun keine Kinderprostitution mehr. Prost. „Beziehungen ab 16 sind jetzt legal“. Prost. „Also einfach nicht vorher zahlen“, rät man mir. Prost.

Er gewinnt im Schach, muss also ein intelligenter Mensch sein. Prost. Wir zeigen uns Kartentricks. Prost. Danach jagt er eine Bedienung durch die Kneipe. Julio Iglesias singt dazu. Prost. Alles ganz normal, irgendwo im nirgendwo. Prost. So vollkommen normal. Prost. „Kann ich zahlen?“

Bei RTL Explosiv wird jedem Deutschen mitgeteilt, wo er am besten mal schnell das nächste Paradies in die Hölle verwandeln kann. Also bitte: tu mir einer den Gefallen und frage mich, wo ich war! Alles ganz normal. Alles so vollkommen normal, irgendwo im Nirgendwo. Selten war Abnormalität so wertvoll wie heute.

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