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Wohlstand vs Kultur in Regensburg

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#578
0301
2014
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Ich will eines begreifen: wie können: wir: das Land der Dichter und Denker: nur so dermassen ignorant gegenüber dem Kampf Wohlstand gegen Kultur sein? Ich will noch mehr begreifen: Wann und wie wurde der Wohlstand der grösste Feind der Kultur? Ich dachte Wohlstand wäre der Nährboden jedweder Kultur? Ich schnall’s einfach nicht. Bitte erklärs mir einer! Oder alle!

Ich bin seit 20 Jahren Regensburger. Der Ruf „höchste Kneipendichte Deutschlands“ war mir immer scheissegal. Ich hab einfach das Leben in Regensburg genossen. Tags und Nachts. Doch jetzt vernichtet unser Wohlstand jede Kultur abseits des Grossherzogtums. Die Gentrifizierung Regensburgs verwandelt das einstmalige Kapital des heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen in einen Zentralfriedhof.

Der Tod beginnt langsam. Als in den 90ern das Kammer, Bavaria, und Stali schlossen, da hat sich keiner auch nur einen feuchten geschert. Rocky Horror Picture Show war gestern und Dolby THX die Zukunft. Gloria schliesst 2000, Laptop und Lederhosen, Bayern integriert alles! Ganz ehrlich: ich dachte genauso. Waren eh zuviel Kinos, oder?

… oder? Denk ich heute wieder. Vielleicht waren’s wirklich zu viele Kinos. Damals. Denn ihre Einzigartigkeit wird dir erst heute in Zeiten Cinewixx und Multiplugg wieder bewusst. Damals waren unsere Kinos in Regensburg einzigartig: Gloria der Show, Stali den Kommunisten und selbst Kammer und Bavaria hatten als einzige Mainstream-Kinos Regensburgs ihre Daseinsberechtigung.

Sprung: Kinos sind für Träumer. Was sind dann unsere Kneipen? Ich bekenne mich schuldig: I’m a barfly. Die grossartisten philosophischen Abhandlungen, Schachspiele, Geistesblitze, Bekanntschaften und einfach glücklichsten Nächte hatte ich in den Kneipen meiner Heimatstadt. Regensburg ändert sich, und ich werde älter. In diesen zwanzig Jahren älter werden in Regensburg sollte man eigentlich meinen, dass zwangsläufig weniger Kneipen genug sein sollten. Ich gehe weniger aus. Aber die wertvollen Kneipen werden schneller weniger als mein Durst nach Leben.

Werd ich jetzt populistisch? Mir egal. Mich kotzt es masslos an, dass der Wohlstand sämtliche alternative Kultur in Regensburg vernichtet. Alternativ, das heisst: Kultur, die abseits des Geldes existiert. Alte Kneipen. Laute Musik. Gute Drinks. Abgegriffene Tresen. Menschen die anders denken und aussehen, und eine Stadt bunt machen. Grosse Konzerte an kleine Orten. Alles vorbei. Helmut? Vielleicht wars vom Kneipenwirt zum Beerdigungsunternehmer gar nicht so weit. Andi? Ich fühl mich wie die letzte Ratte auf der Titanik, und die Bands haben längst aufgehört zu spielen. Apo? Ich bete für dich. Mono? Scheiss auf Stereo Surround! Und irgendwann werd ich der alten Filmbühne sogar die Wiedererrichtung der Berliner Mauer verzeihen.

Man sollte meinen, dass gewachsene Strukturen, Geschichten und vor allem die Vielschichtigkeit in einer Stadt wie der unseren als hohe Werte geachtet werden. Dem ist aber nicht so. Geachtet wird nur, was Geld bringt. Ich hab nichts gegen das Geld. Aber wenn überall nur noch Geld regiert, dann gibt es keinen Unterschied mehr. Gestern war nicht alles besser, ich liebe das heute. Aber wenn ich zusehe, wie schnell sich unsere wunderbare alte Stadt in eine seelenlose Retorte verwandelt, dann stellen sich meine Haare senkrechter als bei Blairwitch Project. Wie ist es möglich, so dermassen rücksichtslos mit unserer Geschichte umzugehen? Ich meine nicht 800, nicht 1500, nicht 1930. Ich meine unsere Geschichte, die letzten 20 Jahre. Nicht mehr.

Ja, wir brauchen neuen Wohnraum. Und ja: nicht nur Millionäre haben ein Recht auf bezahlbaren Wohnraum in dieser unserer wunderbaren Heimat! Zieht mitten in unsere alte Stadt! Jedem das seine! Doch noch mehr als mir die wenigen Randalen-Kiddies des Umlandes nachtens aufstossen, stossen mir die neuen und oft sehr reichen Stadtzentrums-Bewohner Regensburgs auf. Sie tragen gerne fesche Hüte und rufen jede Woche einmal die Polizei, weil sie die Lüftungsanlage der doppelt schallisolierten Live Stage von ihrem Schlaf abhält. Die Polizei ist stest auf der Seite der Kneipe, doch steter Tropfen hölt das Bein.

Wer ins Zentrum einer Stadt zieht, der sollte sich gegebenenfalls darüber im klaren sein, das ein Zentrum der Kultur niemals leise ist. Es lebt. Leben hat einen Ton, und dieser Ton ist manchmal durchaus laut. Sogar vor meinem Schlafzimmer, Hauptausfallstrasse, umpfumpf-Kacke und Hormonotoren. Aber der Ton ist immer schön, denn er sagt: wir leben. Wenn euch der Rhythmus des Lebens nicht zusagt, dann tanzt nicht zu ihm! Zieht auf’s Land und schaut einem anderen Rhythmus beim stillen wachsen zu! Doch selbst dort wird das Leben dann wohl ein stinkender Misthaufen sein. Ein Hahn steigt drauf und kräht. Wir leben. Hier!

Mehr lesen:
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Ob des Erstellungszeitraums blieb heute mal keine Zeit für Bilder. Ihr habt welche? Her damit! Kommentare? Gerne! Hier!

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Ein Kommentar

  • Inuyasha schreibt am Freitag, 3.1.2014 um 12:53 Uhr:

    Kultur entsteht durch Menschen, wenn keiner mehr ernsthaft darin investiert, sei es Zeit oder Geld …ist es so wie es ist… …wir alle habens nicht anders verdient, weil sich keiner mehr ernsthaft engagiert… ..ja klar wenn wieder was wegrationalisiert wird, regen sich alle mal kurz auf, und machen weiter Party…. …Rüssel an Schwanz hinterher… ..ich nehm mich auch nicht aus… ..also allen weiterhin gute Fahrt auf dem Highway to Hell ! Sich über „die Gesellschaft“ – „die Immobilienhaie“ oder wen auch immer aufzuregen, ohne selbst Verantwortung zu tragen, ist immer ganz einfach – es ist aber für mein Verständniss noch keine Form der übernahme von Verantwortung. Wir alle sind Teil dieser Gesellschaft, und prägen und nähren diese – ich hoffe jeder denkt mal beim nächsten Schnäppchenkauf dran, dass auch dies, Kulturgüter wie das Ostentor sterben lässt, weil so etwas eben noch nicht wirtschaftlich optimiert war, und durch etwas rentableres jetzt ersetzt wird… …Business as usual !

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